"Strukturwandel: Schleswig-Holstein als Land"

„Schleswig-Holstein – Land im Aufbau“, „Zwischen gestern und morgen“, „Ein Land verändert sein Gesicht“ oder „Eine Region im Wandel“. Bereits seit den 1950er Jahren bemühten Publikationen zum Land Schleswig-Holstein zumeist dynamische Bilder des Wandels, um die hier stattfindenden sozioökonomischen Entwicklungsprozesse auf den Punkt zu bringen. Dieser Metaphorik begegnet man bis heute. Bislang existieren jedoch keine wissenschaftlichen Studien, geschweige denn umfassende historische Forschungsprojekte, die den strukturellen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft in der Region nach 1945 genauer in den Blick nehmen. Hier setzt das neue Forschungsprogramm des IZRG „Schleswig-Holstein als Land: Strukturwandel“, das neben Aspekten der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte auch kultur-, erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche Dimensionen umfasst.

 

In industriellen und postindustriellen Gesellschaften bildet der Wandel gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen den Normalfall. Stagnation ist ebenso erklärungsbedürftig wie beschleunigter Wandel. Wir begreifen Strukturwandel als beschleunigten, tief greifenden und unumkehrbaren Wandel grundlegender sozialer und ökonomischer Strukturen. In dieser Sichtweise ist der Begriff des Strukturwandels auf Aspekte sozialen Wandels hin erweitert und wird von uns dementsprechend gebraucht. Derartige Wandlungsprozesse lassen sich empirisch belegen, in ihren Ursachen, Verläufen und Folgen beschreiben und historisch einordnen. Sektorale Produktionszahlen, technologische Entwicklungen oder strukturplanerische Konzepte können dafür erste Anhaltpunkte liefern. Jenseits davon hat struktureller Wandel jedoch auch ganz konkrete Auswirkungen für diejenigen, die davon ‚beansprucht‘ werden, sei es durch umfassende Veränderungen der Arbeits- und Lebensformen oder sich wandelnde Selbstwahrnehmungen infolge des Auseinanderbrechens von gewachsenen Milieus.

 

Gefragt wird nach Strukturen ebenso wie nach ‚Betroffenheit‘, es sollen Ansätze ‚moderner‘ Gesellschafts- ebenso wie ‚klassischer‘ Sozialgeschichte nutzbar gemacht werden. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Ursachen, Verläufen und den Folgen des Strukturwandels: Erstens sind die internen und externen Bedingungsfaktoren für sozioökonomischen Wandel, die Quellen des Modernisierungsdrucks zu benennen und einzuordnen. Zweitens gilt es, den Wandel zu beschreiben, also zu ermitteln, in welcher Form, in welchem Ausmaß,  in welchen Sektoren und in welcher Tiefe der Wandel Schleswig-Holstein betraf. Weiterhin stellt sich die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten der Wandlungsprozesse: In wieweit ‚geschieht‘ Wandel, in wieweit lässt sich dieser steuern oder beeinflussend begleiten? Bedeutsam ist drittens die Analyse der Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster sowie der Verarbeitungsstrategien des sozioökonomischen Wandels durch die Betroffenen. In welcher Form wird struktureller Wandel von welchen Gruppen erfahren, welche Folgen hat dies real und auch für die  Selbstwahrnehmung respektive Rollenidentität? Welche Strategien zur Verarbeitung der Wandlungsprozesse lassen sich erkennen, wie sind sie zu interpretieren? Wie und in welchem Ausmaß verändert der Strukturwandel ein in weiten Teilen ländlich-kleinstädtisch geprägtes Land, wie ‚verkraftet‘ dessen regionale Gesellschaft den Wandel? Zu analysieren ist die zu vermutende Diskrepanz zwischen dem, was sich in gesamtgesellschaftlicher Perspektive als „normale Beanspruchung“ (Hans-Ulrich Wehler) ausnimmt, und den mitunter radikalen Folgen, welcher der Wandel für einzelne Gruppen und Milieus bringt.

 

Eine umfassende und flächendeckende Gesamtschau des Strukturwandels in Schleswig-Holstein in allen seinen Einzelbereichen ist aus forschungspraktischen Gründen nicht leistbar. Die jeweils doppelt angelegte exemplarische Analyse relevanter Kernbereiche wird es aber möglich machen, übergreifende Indikatoren des Strukturwandels herauszuarbeiten (Makroebene) und so die wesentlichen Ursachen, Verläufe, Folgen und perspektivischen Wahrnehmungen der Wandlungsprozesse mit der entsprechenden Tiefenschärfe bis hinab auf die Ebene ‚Dorf’ oder ‚Betrieb’ (Mikroebene) zu analysieren. Will man den Wandel in Schleswig-Holstein beschreiben, bieten sich die folgenden exemplarischen Teilthemen an, die – eng aufeinander bezogen – besondere Veränderungsrelevanz besitzen:

  • Landwirtschaft als der jenseits aller volkswirtschaftlichen Bedeutung prägende Sektor des ländlich strukturierten Bundeslandes Schleswig-Holstein.
  • Schwerindustrie, allen voran die im Küstenland Schleswig-Holstein zentrale und auch symbolisch bedeutsame Leitindustrie Schiffbau.
  • Tourismus als der für den Tertiärsektor des Landes im hohen Maße repräsentative Bereich.
  • Bildung als Handlungsfeld und Katalysator von hoher gesellschaftlicher Relevanz – gerade – im Flächenland Schleswig-Holstein
  • Bundeswehr als außerkonjunktureller Antrieb des Strukturwandels und Modernisierungsfaktor in der ländlichen Gesellschaft.

 

Jedes der fünf Themen besitzt für sich genommen zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Bundeslandes Schleswig-Holstein und liefert exemplarisch Erkenntnisse für das Verständnis des Strukturwandels in der Region.

 

Das hier skizzierte Forschungsprogramm konzentriert sich also in seinen in der Ausbaustufe bis zu zehn Forschungsvorhaben auf Schleswig-Holstein, wird intern über zahlreiche Bezüge und Verknüpfungen verfügen, sozusagen ein Gesamtprodukt liefern, zudem nach außen komparatistisch anschlussfähig sein.

 

Die Projekte sind durch die Fragestellungen eng miteinander verzahnt und inhaltlich aufeinander bezogen. Die Synthese ihrer Ergebnisse macht den Strukturwandel im nördlichsten Bundesland umfassend beschreib- und erklärbar. Auf dieser Basis wird es möglich sein, eine zeithistorische Geschichte Schleswig-Holsteins als Bundesland zu schreiben.