Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive

Im Auftrag des Schleswig-Holsteinischen Landtag untersucht das IZRG die "personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 zu Staat, Verwaltung, NSDAP und NS-Organisationen in Schleswig-Holsteins Legislative und Exekutive" und dokumentiert sie in ihren sozialen und politischen Zusammenhängen, auch im Vergleich mit anderen Bundesländern. Das Forschungsprojekt hat eine Laufzeit bis Mai 2016.

 

I.

Das Forschungsprojekt orientiert sich an folgenden Maßstäben:

-       Wir recherchieren Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Biografien aller infrage kommenden MdL, Minister_innen und Staatssekretäre, aber nicht nur in Hinblick auf NS-Belastungen, sondern bezogen auf alle biografischen Muster. Denn sonst produzieren wir ein schiefes, unvollkommenes Bild.

-       Auftragsgemäß führen wir quantitative empirische Erhebungen für die biografisch infrage kommende Gesamtgruppe durch und stellen diese Datenbank schließlich auch zur Verfügung. Aber wir streben qualitative Ableitungen und Forschungen an.

-       Wir ermitteln mit einem umfassenden, transparenten und genau dokumentierten Ansatz rund 400 individuelle Biografien, beschreiben schließlich reale Beispiele, aber wir wollen Typisierungen vornehmen, eine Reihe unterschiedlicher Lebenswege abstrahieren und deren Repräsentanz bewerten.

-       Es gab ehemalige Nationalsozialisten in der schleswig-holsteinischen Landespolitik, die in Netzwerken aktive apologetische Vergangenheitspolitik betieben, andere, die eine zweite, diesmal demokratische Chance nutzten und lebten. Es gab ehemalige Angehörige des demokratischen Widerstands, die jetzt das moralische Fundament der schleswig-holsteinischen Demokratie bildeten, es gab ehemals Verfolgte, die sehr tolerant mit ehemals Verstrickten verfuhren. Allein diese, leicht mit Namen benennbaren Beispiele deuten an, wie erheblich die Bandbreite war.

-       Zudem finden wir zahlreiche unklare, widersprüchliche, gebrochene Biografien. Ein Schwarz-Weiß-Raster schließt sich als aus, Grautöne überwiegen, auch Wandel innerhalb von individuellen Biografien. Wir wollen dieser biografischen und politischen Vielfalt sowie nicht zuletzt dieser ethischen Komplexität gerecht werden. Entsprechend komplex wird somit auch unser Produkt ausfallen.

Kurz: Wir folgen bei Recherchen und Auswertungen ausschließlich wissenschaftlichen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen.

 

II.

Die These, Schleswig-Holstein sei ein Rückzugsort für ehemalige Nationalsozialisten und NS-Gewalttäter gewesen, es habe gar eine ‚Renazifizierung’ stattgefunden, jedenfalls habe sich Schleswig-Holstein von anderen Bundesländern deutlich unterschieden, gehört sei über 50 Jahren zum festen Repertoire. Angesichts der Zahl an Skandalen, dem zeitgenössischen Presseecho und auch des politischen Umgangs damit spricht einiges für diese These. Eindeutig belegt worden ist sie jedoch bisher nicht.

Das laufende Projekt bietet uns die Möglichkeit, den „Fall Schleswig-Holstein“ in den historischen Zusammenhang einzuordnen und zu einer fundierten, weil durch belastbare Vergleiche abgesicherten Bewertung zu kommen.

Die Einordnung des „Falls Schleswig-Holstein“ ist zentraler Bestandteil der in der Ausschreibung des Landtags für dieses Projekt genannten vier Gegenstandsbereiche:

-       die Recherche und Dokumentation von NS-Belastungen späterer MdLs und Mitgliedern der Exekutive

-       die Einordnung und Bewertung der Befunde bezogen auf andere Bundesländer

-       die Frage einer schleswig-holsteinischen Sonderentwicklung

-       die Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten und deren Auswirkung auf das politische Klima

Der erste Punkt, die Recherche und Dokumentation der NS-Belastungen (oder des Dissenses / des Widerstands / der Verfolgung) bildet die Ausgangsbasis für die Beantwortung aller weiterführenden Fragestellungen.

Dabei richtet sich unser Blick neben formal nachweisbaren Kriterien wie Mitgliedschaften, Eintrittsdaten und Funktionen auf schwerer zu ermittelnde und bewertende real wahrgenommene Rollen im NS-Staat, beispielsweise in Wirtschaft, Wehrmacht, Partei und Verwaltung.

Auf dieser Basis werden wir quantitativ ableiten und inhaltliche Fragen beantworten, nämlich:

-       ob und in welcher Form sich ehemalige Unterstützer und Profiteure, ja Täter zu Mitwirkenden im parlamentarisch-demokratischen System wandelten.

-       wie mit der NS-Vergangenheit und vergangenheitspolitischen Themen umgegangen wurde, im Plenum, aber auch im weiteren politischen Raum.

-       ob und wenn ja welcher Zusammenhang zwischen eigener biografischer Erfahrung (bezogen auf die NS-Zeit) und politischem Handeln – insbesondere bei vergangenheitspolitisch relevanten Themen – sich nachweisen lässt.

-       ob auch gruppenspezifische Perspektiven eine Rolle spielten, etwa am Beispiel der dänischen Minderheit oder von Flüchtlingen und ‚Einheimischen’.

Zudem findet eine vertiefte Analyse von exemplarischen Gruppen und Phänomenen statt. So wird die Studie u.a. an zusätzlichen historischen Untersuchungen enthalten:

-       Analyse einschlägiger geschichtspolitischer Landtagsdebatten

-       das Thema „Entnazifizierung und Landtag“

-       die „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ im Landtag

-       die landespolitisch gesteuerte Ahndung von NS-Gewaltverbrechen

-       NS-Euthanasie und den Fall Heyde-Sawade

-       das „Lehrstück“ in Sachen Umgang mit der NS-Vergangenheit: Heinz Reinefarth

-       kommunikative Aspekte des Themas: Vergangenheitspolitik und Sprache

-       den Kulminationspunkt der 1960er Jahre im „Affärenland Schleswig-Holstein“

 

III.

Projektlaufzeit: Sommer 2014 bis Frühjahr 2016.

Mitwirkende im Projekt:

Prof. Dr. Uwe Danker (Projektleiter)

Dr. Sebastian Lehmann-Himmel (Projektkoordinator)

Dr. Stephan Glienke (Bearbeiter der Recherchen)

Unterstützt wird das Team von vier studentischen Hilfskräften und einigen externen Beiträger_innen und Berater_innen.